Kurosch Yazdi: “Verlust an Vielfalt ist immer bedenklich”

Der Primararzt und pro mente Austria Vorstandsmitglied über Suchterkrankungen in Corona-Zeiten, die Gefahr Internetgaming, die Verharmlosung von Cannabis – und über “langweiliges Gesundsein”.

Dieser Artikel erschien am 02.Mai 2020 auf www.wienerzeitung.at

“Wiener Zeitung”: Herr Primar Yazdi, welche Auswirkungen haben die sozialen Beschränkungen in der Corona-Krise auf Menschen mit Suchterkrankungen?

Kurosch Yazdi: Es gibt ganz unterschiedliche Arten, wie Menschen auf eine solche Situation reagieren: Wir haben Menschen, die jetzt schwerer zu ihrer Droge kommen, etwa zu Crystal Meth, das von Tschechien importiert wird. Manche haben deshalb professionelle Hilfe gesucht, andere sind auf ähnliche Drogen umgestiegen, wenige haben die Droge selbst gekocht – und andere konsumieren tatsächlich weniger.

Auch beim Alkohol gibt es ein diverses Bild: Es gibt Menschen, die jetzt deutlich weniger konsumieren, weil sie immer mit Freunden im Gasthaus getrunken haben. Aber es gibt auch viele Menschen, die jetzt deutlich mehr trinken, weil sie frustriert zu Hause sitzen und sich einsam fühlen.

Gibt es derzeit viele Rückfälle von Menschen, die eine Suchterkrankung schon überwunden haben?

Wir haben einige, die gerade in Betreuung waren und jetzt rückfällig wurden. Wir sehen aber auch Menschen, die es erstaunlich lange geschafft haben, abstinent zu bleiben. Krisen mobilisieren in Menschen ja auch Ressourcen, man entwickelt Kräfte und reißt sich zusammen. Die Reaktionen sind unterschiedlich.

Wo sehen Sie außerdem noch Auswirkungen?

Die Anfragen von Eltern, deren Kinder vom Internet nicht mehr wegkommen, ist deutlich gestiegen. Die Kinder sitzen zu Hause und sollen theoretisch von den Eltern beschult werden, was wirklich ein Kunststück ist, wenn man berufstätig ist oder mehrere Kinder hat. Wenn die Kinder keine Freunde sehen können, verbringen sie natürlich mehr Zeit am Computer. Und die, die schon suchtgefährdet sind, spielen jetzt noch mehr. Insgesamt wird es problematisch, je länger diese Situation andauert. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, keine sozialen Kontakte zu haben. Je länger das dauert, umso mehr Menschen dekompensieren. Und das führt bei vielen zu Suchterkrankungen.

Wahrscheinlich kann man in vier Wochen keine schwere Internetsucht entwickeln, in vier Monaten aber schon eher?

Genau so ist es. Je länger es dauert, umso eher chronifiziert sich die Situation, und damit auch die krankhaften Reaktionen darauf.

In den sozialen Medien wird oft gescherzt, dass man es ohne Alkohol jetzt kaum aushalte. Werden Drogen zurzeit verharmlost?

In Krisenzeiten nimmt man sich besondere Freiheiten, die man sich sonst nicht nimmt. Eine Krise ist meistens nicht die Zeit, in der sich Menschen disziplinieren. Man muss die Krise überstehen und macht, was einem hilft. Umso problematischer, wenn die Situation länger dauert. Wir zahlen für die vorbildliche Disziplin in Österreich einen Preis. Je länger der soziale Lockdown dauert, umso mehr psychische Probleme entwickeln sich.

Welche Folgen hat es, wenn Verhaltenssüchte wie Kaufsucht oder Glücksspiel jetzt im Internet befriedigt werden?

Viele Glücksspieler, die früher das kleine Glücksspiel am Automaten betrieben haben, weichen komplett ins Internet aus. Allerdings hat das Glücksspiel dort ein noch größeres Suchtpotenzial, weil es viele Anbieter gibt, die sich an überhaupt keine Schutzmaßnahmen für Kunden wie etwa Cooldowns nach langen Spielphasen halten. Außerdem verliert man durch das bargeldlose Zahlen das Gefühl für Geld, und in der Anonymität spielt man risikoreicher.

Wie sieht die medizinische Versorgung für Suchterkrankte derzeit aus?

Im Bereich der Verhaltenssüchte arbeiten wir über Videokonferenz und Telefon – das ist besser als nichts, aber keine vollwertige Therapie, wie wir sie gewöhnlich machen. Im Alkohol- und Drogenbereich haben wir eine Hotline, über die wir täglich sehr viele Telefonate führen – meist mit Patienten, die wir schon kennen. Unsere Ambulanzen und Stationen sind nach wie vor offen, wir selektieren aber stärker, wen wir persönlich sehen.

Abgesehen von der derzeitigen Ausnahmesituation: Was ist gegenwärtig die gefährlichste Sucht?

Es kommt auf den Blickwinkel an: Wenn man als schlimmste Folge den Tod nimmt, ist Nikotin die Killerdroge Nummer 1. In Österreich sterben pro Jahr 15.000 Menschen an Folgen des Nikotinkonsums, an Heroin sterben 150. Wenn man das individuelle Schicksal ansieht, ist aber Heroin die schlimmste Droge. Was Verkehrsunfälle und Gewalt in der Familie angeht, ist es der Alkohol.

Welche Drogen sind derzeit am stärksten im Steigen?

Eindeutig Cannabis und Online-Gaming. Cannabis ist auch die unterschätzteste Sucht. Es gibt den Glauben in der Bevölkerung, Cannabis mache nicht süchtig und sei ganz natürlich. Heroin und Kokain sind aber auch natürlich… Bei anderen Süchten gibt es einen stärkeren Leidensdruck – bei Cannabis ist das nicht so. Dafür hat das Umfeld den Leidensdruck. Die meisten Suchtkranken können ohne Cannabis nicht mehr einschlafen, auch die Autounfälle unter Cannabiseinfluss steigen. Und es gibt eine Gemeinsamkeit von Cannabis und Internetgaming: Es gibt keine Süchte mit einer ähnlich starken Lobby dahinter. Cannabis hat eine legale Lobby, die ihren Teil dazu beiträgt, dass Cannabis so modisch geworden ist.

Vor sieben Jahren haben Sie das Buch “Junkies wie wir” geschrieben und konstatiert, dass Verhaltenssüchte im Vergleich zu den Substanzsüchten unterschätzt und stark im Steigen sind. Wie hat es sich entwickelt?

Nikotin wird weniger, Alkohol stagniert, aber mit einer Verschiebung Richtung Frauen und Jüngere. Heroin stagniert seit fast 20 Jahren, das ist ehrlicherweise schon ein Erfolg. In Oberösterreich hatten wir eine starke Crystal-Meth-Welle, die aber wieder abgeflaut ist. Dafür sind Psychedelika wie LSD im Kommen, und Cannabis ist, wie gesagt, seit 2016 ganz massiv im Kommen. Im Bereich der Verhaltenssüchte ist alles mit Internet stark im Steigen – Gaming, Social Media und wahrscheinlich auch Pornografie, aber da gibt es keine Zahlen.

Alkohol, Nikotin, Smartphones sind alles Suchtmittel, die sozial akzeptiert im Alltag vorkommen. Wie wird aus einem alltäglichen Getränk oder Kommunikationsgerät eine Sucht?

Was alle Süchte gemeinsam haben, ist, dass sie das Belohnungszentrum im Gehirn anregen. Bin ich ein Typ, der auf diese Belohnung abfährt und immer mehr davon will, dann ist das eine Möglichkeit, süchtig zu werden.

Eine andere ist, dass ich Defizite habe, die ich mit der Droge kompensiere: Bin ich immer ängstlich, neige ich vielleicht zu Alkohol; fühle ich mich einsam, greife ich vielleicht zum Smartphone und zu Social Media. Wenn ich mit meinem Selbstbild nicht zufrieden bin, bieten Spiele mit Avataren eine Möglichkeit, eine komplett andere Person darzustellen. Kompensiere ich mit dem Konsum ein Defizit, neige ich viel mehr dazu, eine Sucht zu entwickeln, als wenn ich kein so relevantes Defizit habe. Dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, weil ich als gesunder Mensch irgendwann Lust auf Abwechslung habe. Wenn ich weniger gesund bin, spüre ich nach dem Konsum mich selbst und auch mein Defizit wieder.

Es ist längst ein alltägliches Bild, dass Menschen an der Bushaltestelle oder im Restaurant auf ihr Smartphone starren. Ist das eine Form von Kultur oder schon Sucht?

Es gilt: Wenn etwas zum Kulturgut wird, kann es nicht krank sein. Psychische Krankheiten sind per Definition nicht kulturadäquat. Wenn etwas Kultur ist, ist es nicht krank, auch wenn es aus einem bestimmten Blickwinkel noch so absurd erscheinen mag. Die Medienindustrie macht das eben so genial, dass sie die ständige Nutzung des Handys als kulturadäquat darstellt, sodass wir gar nicht mehr sagen können, ab wann auch ein extremer Konsum es nicht mehr wäre.

Noch ist es zwar kulturadäquat, dass Menschen ständig Handys benutzen, aber nicht, dass man 24 Stunden Computer spielt, ohne zu essen und zu schlafen. Also sagen wir, das ist krank, aber zwei Stunden spielen ist wiederum nicht krank. Andere Kulturen sind da weiter: Bei einer internationalen Suchttagung haben wir diskutiert, ab wie viel Stunden privater Internetnutzung der Konsum schädlich ist. Die deutschsprachigen Experten meinten, dass nicht-beruflicher Internetkonsum ab vier Stunden täglich nicht mehr gesund ist. Die Südkoreaner wussten gar nicht, wovon wir reden. Sie meinten, unter sechs Stunden sei bei ihnen alles normal. Bei uns würde man da bereits sagen, da passt etwas nicht. In Südkorea gilt privater Internetkonsum erst ab acht Stunden täglich als ungesund. Aber das ist von der Industrie durchaus so gewollt.

“Man hat es geschickt geschafft, es als Fortschritt zu sehen, wenn Kinder mit dem Handy umgehen können.”

Dr.Kurosch Yazdi

Ab wann wäre für Sie Internetkonsum ungesund?

Ein gesunder Mensch ist ein vielfältiger Mensch. Ich glaube nicht, dass es um eine Stundenanzahl geht. Die Frage ist, was macht jemand sonst noch? Es geht um die psychosoziale Funktionsfähigkeit – solange ein Kind in die Schule geht und dort eine angemessene Leistung bringt und auch Fußball spielt oder Rad fährt, ist es auch okay, wenn es an einem verregneten Sonntag einmal sechs Stunden am Computer spielt. Problematisch ist es, wenn ein junger Mensch zunehmend sein Verhalten einschränkt, wenn ihn nur mehr der Computer interessiert. Der Verlust an Vielfalt ist immer bedenklich. Solange Kinder vielfältig sind und sich für verschiedene Dinge interessieren, ist es gut. Wenn es das Interesse an diesen Dingen verliert und dafür Computer oder Handy immer wichtiger werden, dann wird es ungesund. Und das ist bei Erwachsenen genauso.

Vor dem digitalen Zeitalter haben junge Menschen erst relativ spät Kontakt mit Suchtmitteln gehabt. Man würde auch heute einem Kindergartenkind keinen Schnaps geben, aber mit den Suchtmitteln Internet und Smartphone sind viele Kinder schon vertraut.

Dort, wo Suchtmittel zur kulturellen Norm erklärt werden, haben auch Kinder leicht Zugriff. Das Handy ist auch für Kinder kulturelle Norm, und unter den jungen Usern werden auch manche süchtig. Als wir vor zehn Jahren unsere Spielsuchtambulanz gegründet haben, waren die Internetsüchtigen Studenten. Jetzt rufen uns Eltern von Neunjährigen an, die sagen, ihr Kind spielt Tag und Nacht am Handy “Fortnite”. Wenn ich frage, wieso ein Neunjähriger ein Handy hat, heißt es, die Oma hat es ihm zum Geburtstag geschenkt.

(c)Mirko Sajkov auf pixabay

Aber Eltern tun sich die Machtkämpfe nicht an, und das Kind ist angenehm ruhig, wenn es spielt. Die Industrie hat es super geschafft, Eltern und Kindern zu suggerieren: Wenn du ein Handy hast, dann bist du wer – wie früher bei Turnschuhen. Das sollte uns stutzig machen.

Wird diese Gefahr genug thematisiert?

Ich hoffe, dass es mehr zum Thema wird. Ehrlicherweise kann man zugeben, dass das Gesundheitssystem für so junge Suchtkranke noch nicht vorbereitet ist. Sie werden immer jünger. Was passiert, wenn wir es in ein paar Jahren mit Sechsjährigen zu tun haben? Wir auf der Suchtabteilung sind keine Kinderpsychiater. Wir wissen heute, was mit jemandem passiert, der 30 Jahre lang zu viel Alkohol trinkt. Wir wissen aber nicht, was es mit einem Kind macht, das ab seinem dritten Lebensjahr stundenlang vor dem Handy sitzt. Man hat es geschickt geschafft, es als Fortschritt zu sehen, wenn der Vierjährige mit dem Handy umgehen kann. Aber Kinder sollten andere Dinge lernen, die sie für später rüsten – Technologie gehört nicht dazu. Die Kinder müssen soziale Kompetenzen lernen, und die lernt man nicht in den sozialen Medien, sondern auf dem Spielplatz.

Leben wir tatsächlich, wie oft behauptet wird, in einer Suchtgesellschaft? Auf der anderen Seite gibt es doch mit Fasten und Detox auch einen großen Trend zum Verzicht…

Ich finde den Ausdruck “Suchtgesellschaft” zu leichtfertig gebraucht, weil Sucht eine schwere Krankheit ist. Nicht jeder, der viel konsumiert, ist auch süchtig. Andererseits hat Verzicht etwas Zwanghaftes und geht oft ins Extreme. Gesünder wäre, auf 90 Prozent zu verzichten und sich zehn Prozent zu gönnen. Ich plädiere für einen gesunden Mittelweg. Das Problem ist, gesund sein ist relativ langweilig.

Sie sind medial sehr präsent und haben einige Bücher herausgebracht. Was ist Ihre Mission?

Manchmal gibt es Themen, die aus unserer suchtmedizinischen Sicht ganz offensichtlich wichtig sind und sich in der gesellschaftlichen Diskussion überhaupt nicht wiederfinden. Das war vor zehn Jahren bei den Verhaltenssüchten so, und so ist es heute bei Cannabis und der Internetsucht von Kindern. Gelegentlich habe ich das Gefühl, ich kann meinen Mund dazu nicht halten. Sucht hat viel mit Aufklärungsarbeit zu tun, deshalb nütze ich die Bühne, halte Vorträge und gebe Interviews. Böse Stimmen würden sagen, ich bin auch eine Rampensau…

Kurosch Yazdi, leitet als Primararzt seit 2012 die Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin am KuK Linz. Er ist auch Autor mehrerer Bücher.

Julia Rumplmayrlebt als freie Journalistin im Mühlviertel.