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Die Krankheit eines Angehörigen ist meist ein Marathon und kein Sprint

Annette Hördinger vom Angehörigen-Verein HPE Österreich im Gespräch über die Herausforderungen und Sorgen Angehöriger – und wie sie betroffene Familienmitglieder und sich selbst bestmöglich unterstützen.

Welche – oft widersprüchlichen – Gefühle haben Angehörige von Menschen mit psychischen Problemen?

Annette Hördinger: Für Angehörige bricht eine Welt zusammen, wenn ein Mensch aus der Familie erkrankt. Aus dieser Krise entstehen Gefühle, die immer wieder kommen können. Schuldgefühle sind ein sehr starkes Thema, vor allem wenn Eltern von jungen Erwachsenen kommen. Sie fragen sich, ob sie in der Kindheit etwas übersehen oder falsch gemacht haben, ob sie etwas genetisch mitverursacht haben.

Scham kommt auch dazu: Was sagt das über uns als Familie aus, dass jemand von uns krank ist? Was müssen die anderen von uns denken? Speziell bei Männern ist das Schamgefühl sehr stark – sie negieren die Erkrankung gerne, als wäre sie dadurch nicht mehr da. Da spielt auch die gesellschaftliche Stigmatisierung hinein: Ein komplizierter Beinbruch wird von der Gesellschaft anders gesehen als eine Depression.

Unter anderem deshalb braucht es oft sehr lange, bis Angehörige zu uns finden – weil man das Thema zuerst innerfamiliär lösen will.

Kommen Angehörige in akuten Phasen zu Ihnen oder auch bei chronifizierten Krankheiten wie einer jahrelangen Depression?

Am Beispiel der bipolaren Störung:  Hier kommen die meisten Angehörigen in der Maniephase zu uns. In dieser Phase entsteht viel Leid, weil der oder die Betroffene irgendwo in der Welt herumschwirrt, es gibt finanzielle Belastungen, weil Geld mit absurden Käufen in den Sand gesetzt wird. In der Depression sagen viele Angehörige: Da habe ich alles unter Kontrolle, da nimmt er oder sie seine/ihre Medikamente. In der Manie wird der oder die Erkrankte unkontrollierbar und beängstigend. Da kommt auch Angst vor Aggression, Selbstgefährdung oder Suizid.

Aber auch eine chronifizierte Depression kann viel Leid bei Angehörigen auslösen. Wenn sie über Jahre nichts bewirken können, führt das zu Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Bei welchen Diagnosen in der Familie kommen Angehörige zu Ihnen?

Angehörige erhalten zu allen psychiatrischen Krankheitsbildern, wie Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, Depression, Angst, Bipolare Erkrankung, Zwangserkrankung, Persönlichkeitsstörung Information und Beratung.

Egal ob es schon eine Diagnose gibt oder noch nicht. Bei jungen Erwachsenen sind die Eltern oft unsicher, was Rückzug oder die Vernachlässigung von Hobbys bedeuten. Sie fragen sich, ob es ein pädagogisches oder psychiatrisches Problem ist, und möchten das bei uns abklären. Der Leidensdruck der Angehörigen ist zumeist sehr hoch, wenn sie Kontakt zur Beratungsstelle aufnehmen.

Welche Rolle haben Angehörige bei psychischen Krankheiten?

Sie sind meist die ersten, die Betroffene motivieren sich behandeln zu lassen. Nach einer Entlassung werden Angehörige sehr stark eingebunden, weil ambulante Hilfen vom Betroffenen nicht angenommen werden und weil das Gesundheitssystem auch auf den Angehörigen aufbaut. Angehörige versuchen Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Krankenschwester in einem zu sein. Es ist sehr wichtig, den Angehörigen dahingehend Entlastung zu geben, dass sie nicht alles übernehmen müssen und sich auf ihre ursprüngliche Rolle zu besinnen:  „Ich bin kein Profi, ich bin Mutter“. In der ersten Krisensituation würde ich mir wünschen, dass es mehr nachgehende, aufsuchende Hilfen für Betroffene gäbe, die Krisengespräche anbieten, um damit  einen Psychiatrieaufenthalt möglicherweise abzuwenden.

Angehörige sind oft die ersten, die Anzeichen einer psychischen Krankheit bemerken. Wie wichtig sind sie als ErsthelferInnen?

Ich habe das Gefühl, dass man als Angehöriger eher zuwartet. Die wenigsten reagieren schnell, im Schnitt dauert es sieben Jahre bis jemand nach ersten Auffälligkeiten zu uns kommt. Es gibt die Scham, nicht selbst bedürftig sein dürfen, sich nicht als Angehöriger eines Kranken sehen zu wollen.

Es ist aber auch wichtig, die eigenen Ressourcen zu pflegen. Die Krankheit eine Angehörigen ist meist ein Marathon und kein Sprint, und man muss sich die Luft gut einteilen. Das Thema der Selbstfürsorge ist sehr wichtig, ich muss mich gut schützen und auf mich achten um stark für andere zu sein.

Wie schützen Angehörige ihre Grenzen?

Das ist in den verschiedenen Rollen mehr oder weniger einfach. Als Elternteil ist es oft ganz schwierig, als Bruder oder Schwester  kann es unter Umständen einfacher sein sich abzugrenzen, vor allem wenn die Eltern Verantwortung übernehmen. Da kann ich mich auch eine Zeitlang herausnehmen aus der Situation, wobei das auch nicht leichtfällt. Manche müssen sich aber abgrenzen, weil sie nicht mehr können.

Wichtig ist sich zu fragen: Was tut mir gut, was brauche ich für mich, wo sind meine Auszeiten von der Krankheit? Nicht jedes Gespräch in der Familie muss sich um den oder die Betroffene/n drehen.

Ein wichtiger Punkt ist es, das Helfersystem auszuweiten: Wer kann etwas übernehmen, was ich immer übernommen habe? Mit wem kann ich die Belastung teilen? Wo kann ich an Profis oder zB.: an eine Tagesstruktur auslagern?

Wie helfen Sie Angehörigen bei HPE?

Wir geben sozialrechtlich Beratung zu Fakten von Mindestsicherung, betreutem Wohnen, bis zu Stellen der medizinischen Versorgung. Wir informieren über die Krankheitsbilder und den Umgang damit: Es gibt Studien, dass die Informiertheit der Angehörigen einen positiven Krankheitsverlauf begünstigt.

Wir bieten außerdem Selbsthilfegruppen für Angehörige an, begleiten Angehörige in Beratungen dabei, schwierige Situationen mit dem/der Erkrankten (Ängste, Sorgen, Hilflosigkeit) auszuhalten, bieten einen monatlichen Jour fixe zu verschiedenen Themen, veranstalten einmal im Jahr große Tagung, machen Seminare. . Alle Beratungen sind kostenlos und von öffentlichen Mitteln gefördert.

Angehörige sind so nahe an den Betroffenen, dass auch sie unter der Krankheit leiden. Es gibt das Phänomen der Co-Abhängigkeit – kann eine Depression ansteckend sein?

Das ist ein zentrales Thema. Co-Abhängigkeit entsteht häufig: im Sinne von „Ich tue alles dafür, dass mein Mitmensch gesund wird“. Ich sitze 24 Stunden zuhause und warte, dass mein Sohn aus dem Zimmer kommt, weil ich für ihn da sein möchte. Wenn ich mein Leben hintanstelle und in den Dienst des oder der Betroffenen stelle, bin ich in einer Co-Abhängigkeit.

Angehörige fühlen sich häufig für das krankhafte Verhalten verantwortlich, haben die Vorstellung, sie können den Krankheitsverlauf im positiven wie im negativen beeinflussen. Eine Angehörige hat mir erzählt: Wenn meine Mutter Angst vor Bombenangriffen hat, schmeißen wir uns gemeinsam auf den Boden. Die Tochter will die Mutter nicht ihrer Wahrnehmung berauben. Ein solches Verhalten ist gut gemeint, aber im Grunde kontraproduktiv. Ich muss als Angehörige/r meine eigene Wahrheit aufrechterhalten, dann bin ich nicht co-abhängig verschmolzen. Ich muss ein authentisches, ehrliches Gegenüber darstellen.

Welche Empfehlungen haben Sie für Erste Hilfe für die Seele?

In der Akutsituation ist es wichtig gelassen zu bleiben, klare und einfache Ich-Botschaften auszusenden, keine kritischen Kommentare. Keinen Druck ausüben. Es ist gut, äußerliche Reize zu mindern und der oder dem Betroffenen eine ruhige Umgebung zu bieten. Man sollte signalisieren, für den anderen da zu sein, allerdings ohne die eigenen Grenzen zu verletzen.

Aus Sicht der Betroffenen ist es besonders die „stellvertretende Hoffnung“ der Angehörigen, die Gesundung begünstigt – wenn Mitmenschen Optimismus und Zutrauen signalisieren. „Ich glaube an Dich“, „Ich habe Dich schon anders erlebt“, „Es gibt so viel, das du kannst“ – wenn man diesen ressourcenorientierten Blick und diese hoffnungsvolle Haltung als Angehöriger schafft, hilft man den Betroffenen sehr.

Zur Person: Annette Hördinger, Psychologin, ist als Beraterin beim Verein „HPE Österreich – Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter“ tätig.  www.hpe.at

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