„Es soll normal werden, über psychische Krisen zu sprechen“

Psychische Krankheiten sind im Zunehmen – und dennoch fällt es vielen Betroffenen und Angehörigen schwer, sie zu thematisieren. Erste Hilfe für die Seele ist ein wichtiger Schritt in der Enttabuisierung von psychischen Krisen in der Gesellschaft. Werner Schöny, Ehrenpräsident von pro mente Austria, im Gespräch über den hohen Wert der Ersten Hilfe.

Warum ist Erste Hilfe für die Seele ein so wichtiges Thema für pro mente Austria?

Werner Schöny: Psychische Krankheiten können jeden und jede treffen, und so sollte man auch die Grundkenntnisse im Umgang mit Menschen mit psychischen Problemen fördern. Mehr Wissen kann Schlimmeres verhindern und Ängste abbauen.

Fast alle erwachsenen Menschen haben bereits einen klassischen Erste Hilfe Kurs absolviert – wie sieht es beim Wissen der ÖsterreicherInnen zum Thema Erste Hilfe für die Seele aus?

Um dieses Thema ist es derzeit noch nicht so gut bestellt. Wenn bei Mitmenschen psychische Leiden akut auftreten, bestehende Krankheiten offenkundig werden oder sich verschlechtern, herrscht oft große Hilflosigkeit bei Angehörigen und Freunden. Die Menschen schauen weg, können mit dem Zustand des anderen nicht umgehen.

Wie will pro mente Austria erreichen, dass dieses Thema mehr ins Bewusstsein der Menschen gelangt?

Für uns als Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen ist Erste Hilfe für die Seele ein Konzept, das es dringend bundesweit zu etablieren gilt. Es geht uns darum, dass möglichst jeder Mensch genügend Basiswissen besitzt, um auf einen von einer psychischen Krise Betroffenen aufmerksam zu werden, mit ihm oder ihr in Kontakt zu treten und zu wissen, wo bei Bedarf professionelle Hilfe zu finden ist. Eine psychische Krise nur zu erkennen ist bereits ein großer Schritt, der schon viel bewirken kann.

Psychische Krankheiten können jeden und jede treffen. Man sollte auch die Grundkenntnisse im Umgang mit Menschen mit psychischen Problemen fördern. Mehr Wissen kann Schlimmeres verhindern und Ängste abbauen.

Welche konkreten Maßnahmen ergreifen Sie, um mehr Sensibilität für das Thema zu erreichen?

Erste niederschwellige Schritte sind die Broschüre Erste Hilfe für die Seele – Rat und Hilfe bei psychischen Problemen, die über Krankheitsbilder aufklärt, außerdem die Homepage www.erstehilfefuerdieseele.at, auf der auch in einem eigenen Blog auf aktuelle Fragen und Probleme in der Gesellschaft eingegangen werden kann. Das Informationsangebot soll Betroffene und Angehörige unterstützen, sich bei psychischen Problemen zu orientieren und vielleicht etwas mehr Klarheit in die eigene und in die Psyche des Gegenübers zu bringen. Wir informieren über psychische Krankheiten, klären auf, enttabuisieren. Es soll normal werden, über seelische Krisen zu sprechen. Als Zukunftsvision wäre das Etablieren eines alternativen Erste-Hilfe-Kurses für die Seele wünschenswert, jeder und jede sollte das Rüstzeug haben um auf psychische Krisen bei Mitmenschen reagieren zu können.

Es gibt viele professionelle ExpertInnen für psychische Krisen. Welchen Stellenwert haben Laien als ErsthelferInnen bei psychosozialen Krisen?

Hilfsorganisationen wie pro mente Austria übernehmen ihren Part so breit wie möglich. Dazu braucht es aber auch ein Zusammenspiel mit „seelischen ErsthelferInnen“. Wenn Mitmenschen in einer Krise das Richtige tun, kann das sehr unterstützend sein. Mit dem nötigen Wissen wird Wegschauen aus Unsicherheit verhindert. Und das kann letztlich Leben retten. Und dazu braucht es oft nicht viel: Wenn sich Menschen in psychischen Krisen verstanden und angenommen fühlen, nimmt das schon viel Druck von ihnen.

Psychische Krankheiten sind im Zunehmen, und trotz vieler Maßnahmen sind sie noch immer ein Tabuthema…

Es gibt noch immer eine große Stigmatisierung, wenn es um psychische Krankheiten geht. Auffällige Veränderungen werden verdrängt oder zu spät bemerkt. Man will nicht wahrhaben, dass ein Angehöriger eine psychische Krankheit hat, man erzählt nicht so unbefangen davon wie von einem komplizierten Beinbruch. Mehr Wissen über Symptome und Verlauf von psychischen Krankheiten kann bereits Licht in dieses Dunkel bringen und baut Ängste ab. Frühe Erste Hilfe kann eine Verschlechterung des Zustands hintanhalten oder zumindest die Schwere einer nachfolgenden Erkrankung reduzieren.

Wie steht es generell um die psychische Gesundheit unserer Gesellschaft?

Das Ausmaß des Problems wird immer noch unterschätzt. Eine im April 2018 publizierte Studie zeigt, dass 1,1 Milliarden Menschen oder 15,5 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2016 an psychischen Erkrankungen litten. Vier Prozent der Menschen (3 Prozent der Männer, 4,5 Prozent der Frauen) und somit 268 Millionen Menschen litten an Depressionen, nahezu gleichauf damit lagen Angststörungen. An Suiziden starben im Jahr 2015 dreimal so viele Menschen wie durch Verkehrsunfälle. Zwar sinkt die Suizidrate seit den 1980er-Jahren , seit der Weltwirtschaftskrise 2008 stagniert der Wert allerdings.

Das Ausmaß des Problems wird immer noch unterschätzt. Eine im April 2018 publizierte Studie zeigt, dass 1,1 Milliarden Menschen oder 15,5 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2016 an psychischen Erkrankungen litten.

Wie ist Ihr Ausblick in die Zukunft?

Die WHO geht davon aus, dass bis zum Jahr 2030 Depressionen, Angststörungen und Alkoholabhängigkeit drei der fünf häufigsten Krankheiten weltweit sein werden. Umso mehr muss es unser Ziel sein, mehr über diese Krankheiten zu sprechen und sie weiter zu enttabuisieren. Psychische Krankheiten sind mitten in der Gesellschaft und können jeden treffen, niemand sollte sich dafür schämen müssen. Mit dem Projekt Erste Hilfe für die Seele setzen wir erste Schritte: Es soll ganz normal werden, mit Freunden und Angehörigen über psychische Krisen zu sprechen.

Prof. Uni. Doz. Dr. Werner Schöny, Psychiater und Psychotherapeut, ist Ehrenpräsident von pro mente Austria und Vorstandsvorsitzender von pro mente OÖ.