„Bin ich geheilt?“ –Warum meine Sichtweise auf diese Frage sich in den letzten Wochen verändert hat. Warum die Antwort sehr darauf ankommt, was genau man mit „geheilt“ meint. Und warum ich froh bin, nicht austherapiert zu sein.
Dieser Blogpost wurde zuerst am 17. April 2019 auf www.travelingtheborderline.com/bin-ich- geheilt/ veröffentlicht.
In letzter Zeit bekomme ich öfter die Frage gestellt, ob ich denn geheilt bin. Wahrscheinlich, weil ich so „normal“ wirke. Weil man – auch durch das Buch und all das, was ich heute so tue und Arbeit nennen darf – wohl schnell den Eindruck bekommt, ich hätte all das, worüber ich so rede und schreibe, inzwischen hinter mir gelassen. Dass das nicht ganz den Tatsachen entspricht, dass meine drei Begleiter Borderline, Abhängigkeit und Depression nach wie vor Teil meines Lebens sind, sieht man mir ja weiterhin nicht an. Denn die entscheidenden Schritte Richtung Heilung sind, wie die Krankheit an sich, eben unsichtbar, schwer bis gar nicht zu sehen.
Auf die Frage, ob ich geheilt bin, habe ich daher auch lange sofort „Nein“ gesagt. Denn bisher war meine Ansicht, dass psychische Krankheiten nicht heil- sondern nur behandelbar sind. Aber nun frage ich mich selber: Sind sie vielleicht doch heilbar?
Was heißt denn „heil“ eigentlich?
So wie ich das sehe kann man heil, geheilt, Heilung sehr verschieden auffassen. Man kann damit entweder meinen, dass alles wieder so wie früher, wie vor der Krankheit wird. Sozusagen als wäre nichts gewesen. Das mag bei körperlichen Erkrankungen vielleicht funktionieren. Aber auch da nicht bei allen. Gut, wenn ich eine Grippe überstanden habe dann hat sich dadurch wohl nicht großartig etwas verändert für mich. Dann ist nachher quasi vorher.
Anders sieht es schon bei tief greifenderen Fällen, wie beispielsweise einem Beinbruch aus. Der Bruch mag heilen, man kann wieder laufen, springen, bergsteigen. Aber erstens dauert es lange, man muss viel Geduld mitbringen. Und viele berichten mir, dass sie auch Jahre später noch den Unterschied zum gesunden Bein merken. Eigentlich ist also alles wie früher. Aber irgendwie ist es doch anders.
Und das ist dann wohl auch, was ich unter Heilung verstehe. Es gibt keinen direkten Leidensdruck mehr, die Krankheit schränkt einen nicht mehr im Alltag ein. Die Depression drückt einen nicht mehr Tag für Tag auf die Couch, die Sucht kontrolliert nicht mehr jeden Gedanken, man kann endlich wieder ohne fremde Hilfe einen Teller von der Küche ins Esszimmer tragen, weil man keine Krücken mehr braucht.
Es gibt keinen direkten Leidensdruck mehr, die Krankheit schränkt einen nicht mehr im Alltag ein.
Aber die Erinnerung, wie es in der Krankheit war, die bleibt. Sie mag blasser werden, aber sie verschwindet nicht komplett. Sondern wird Teil des Lebens. Man wird sensibler in der Wahrnehmung, auch dankbarer. Achtet vielleicht mehr und früher auf Warnzeichen, versteht Zusammenhänge. Lässt gefährliche Hobbys weg, ändert Teile des Lebens, weil sie irgendwie mit der Krankheit zusammen hingen. Sucht sich statt den Menschen, die einem nicht gut tun, neue Kontakte. Sucht sich statt dem gefährlichen Hobby etwas ruhigeres.
Lektion fürs Leben
Anders als bei körperlichen Erkrankungen gilt allerdings bei seelischen, dass die Auslöser oft schwerer zu erkennen und zu finden sind. Man im Zweifelsfall die Dinge, die mit verantwortlich waren, nicht mal eben in die Ecke stellen kann wie ein paar Skier, die nach dem Unfall vielleicht sowieso nicht mehr zu gebrauchen sind. Der eigene Kopf lässt sich nicht so eben abschrauben, das Trauma nicht aus der Erinnerung löschen, das Essen sich nicht komplett vermeiden.
Man muss also den schwereren Weg, die kompliziertere Lösung nehmen. Das „sich damit beschäftigen, sich auseinandersetzen, verstehen lernen“. Was begünstigt die Heilung, was die Erkrankung? Welche Auslöser gibt es bei mir, und wie kann ich damit umgehen? Ja, das ist ein mitunter wahnsinnig mühsamer Prozess – aus dem man aber gestärkt, gefestigt und auch klüger wieder raus geht.
Und genau das ist ja dann auch der Teil der Heilung, der bleibt. Der einen für den Rest des Lebens begleitet. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den unschönen Seiten des (eigenen) Lebens, mit den Stolpersteinen und Tiefpunkten. Denn im Zweifelsfall hält das Leben noch ein paar mehr davon für uns bereit.
So wurde mir vor kurzem die Frage gestellt, was es denn mit mir machen würde, wenn mir das Leben jetzt einen solchen Stein vor die Füße werfen würde. „Nun,“ habe ich gefragt „was würde es denn mit dir machen?“ Woraufhin die Antwort ahnungsloses Schweigen war. Und schließlich ein „Keine Ahnung“ kam. Genau das gleiche sage ich auch. Keine Ahnung, was so ein Tiefpunkt mit mir machen würde. Ob ich wieder zurückfallen würde, ein paar Schritte auf der Heilungsleiter nach unten purzeln würde. Oder eben gerade nicht.
„Vielleicht habe ich sogar einen Vorteil anderen Menschen gegenüber“ habe ich weiter geantwortet. Weil ich inzwischen, dank meiner Krankheiten und vor allem der Therapiearbeit der letzten Jahre, viele Werkzeuge, Hilfsmittel und Strategien habe, um auch mit diesen Seiten des Lebens besser umzugehen. Weil ich nicht ahnungslos in die Falle tappe, sondern sozusagen vorgewarnt bin. Und das wird auch so bleiben.
Austherapiert? Zum Glück nicht!
Was allerdings nicht heißt, dass ich austherapiert bin. „Austherapiert“ hab ich immer so verstanden, dass man keine Therapie mehr braucht. Und damit lag ich komplett daneben. Und bin mit diesem Missverständnis nicht alleine, wie ich inzwischen weiß. Ich dachte es hieße so viel wie „geheilt“. Man ist quasi soweit, dass man aus der Therapie rausgehen kann, fertig, abgeschlossen.
Inzwischen weiß ich, dass austherapiert so ziemlich das genaue Gegenteil davon ist. Nämlich so viel wie „Wir haben alles versucht, aber nichts hilft“. Es ist also ein sehr unschönes Wort, was man sozusagen auf keinen Fall bei sich haben möchte. Keine Therapie hat angeschlagen, alle Versuche sind in die Hose gegangen, es gibt keine Hoffnung mehr, wir können nichts mehr für sie tun – könnte man es auch übersetzen bzw. interpretieren.
Und ich wundere mich nicht, dass viele Profis einen großen Bogen um das Wort machen, es am liebsten ganz umgehen wollen. Denn in gewisser Weise ist es ja ein Todesurteil für jede Art von Behandlung. Und damit auch ein Versagen.
„Austherapiert“ hab ich immer so verstanden, dass man keine Therapie mehr braucht. Und damit lag ich komplett daneben.
Ich persönlich weiß – und viele Studien unterstützen mich darin – dass wirklich nur ein sehr kleiner Teil aller Menschen mit psychischen Erkrankungen sozusagen hoffnungslose Fälle sind. Viel häufiger ist aber, dass es die richtige Therapie, den richtigen Weg, die richtige Hilfe gibt. Bei einigen Menschen kann die Suche nach der passenden Lösung allerdings länger dauern, als bei anderen. Da kommen wieder viele Faktoren zusammen.
Auch welche, die nicht direkt mit der Krankheit zu tun haben,
sondern diesen Prozess indirekt erschweren. Denn es hat wohl auch mit der
Anspruchshaltung der Beteiligten zu tun und daran, welche Maßstäbe angelegt
werden ob man irgendwann den „GEHEILT“-Stempel rausholen und aufdrücken kann
oder nicht.
Ansprüche vs. Akzeptanz
Denn gefühlt prallen beim Thema Heilung mal wieder zwei Welten aufeinander, zwei Seiten. Auf der einen möchte man heil, gesund, normal sein. Auf der anderen Seite gibt es da aber etwas im Leben, was einen davon abhält so zu sein. Oder jedenfalls unseren Ansprüchen an diese Worte zu genügen.
Genau wie normal für jeden anders aussehen kann, kann auch geheilt für jeden Menschen anders aussehen. Was damit verbunden wird, wann man es erreicht hat. Und wenn ich Maßstäbe an mich anlege, die einfach komplett an meinen Fähig- und Möglichkeiten vorbeigehen, dann ist ein Scheitern vorprogrammiert.
So wie ich als Rollstuhlfahrer einsehen muss, dass gewisse Dinge gar nicht oder nur schwer für mich zu schaffen sind, so können auch psychische Krankheiten einem gewisse Türen im Leben einfach versperren. Wenn ich mich dann auf diese Türen konzentriere, weil ich unbedingt, unbedingt und warum auch immer da durch will, dann löst das natürlich Frust aus. Wenn ich mich aber mit den Türen, mit den Möglichkeiten beschäftige, die ich problemlos öffnen und verfolgen kann, dann ist das deutlich weniger frustrierend.
Vielleicht kann es also hilfreich und sinnvoll sein, sich mal ganz in Ruhe anzuschauen, was für einen persönlich denn „geheilt“ eigentlich bedeutet. Um dann sagen zu können, wann man es erreicht hat.
Bin ich denn jetzt geheilt?
Jetzt hier beim Schreiben habe ich gemerkt, wie viel die Wörter „heil“ und „normal“ gemeinsam haben. Sie sind wahnsinnig individuell, jeder hat seine eigene Auffassung. Meiner Auffassung nach kann ich heute sagen: „Ich bin geheilt.“ Was nicht bedeutet, dass meine drei Begleiter verschwunden sind. Oder dass ich keine schlechten Tage mehr habe. Oder dass immer alles gut ist.
Wenn die Akkus mal leer sind und die Borderline es doch mal ans Steuer schafft, dann werfe ich mir – und ihr – das nicht vor. Sondern sehe es als klares Zeichen, dass ich ganz dringend ein bisschen aufladen muss.
Der Unterschied zu früher ist, dass heute ICH die Krankheiten kontrolliere, und nicht mehr SIE mich. Oder anders gesagt: Ich arbeite mit und nicht mehr gegen sie. Wenn die Depression alle paar Wochen mal einen guten Tag hat, dann nehme ich sie in den Arm, schenk ihr ein bisschen Aufmerksamkeit, bin gut zu mir und meistens verschwindet sie dann genau so schnell wieder, wie sie aufgetaucht ist.
Wenn die Akkus mal leer sind und die Borderline es doch mal ans Steuer schafft, dann werfe ich mir – und ihr – das nicht vor. Sondern sehe es als klares Zeichen, dass ich ganz dringend ein bisschen aufladen muss. Oft passiert es auch, dass die erste Reaktion auf ein Ereignis die Borderline-Reaktion ist. Die schnelle, impulsive, heftige. Aber nach ein paar Sekunden schaltet sich dann der Kopf ein und sucht im gelernten Wissen der letzten Jahre nach der passenderen Reaktion und übernimmt. Das zu beobachten ist manchmal sogar irgendwie amüsant.
Wer sich zur Zeit wirklich verkrümelt hat, ist die Sucht. Ich habe nicht das Bedürfnis, „endlich“ wieder trinken zu wollen. Wie habe ich vor kurzem so schön auf Instagram gelesen „I never actually had a drinking problem, I had a reality problem.“ Und das kann ich unterschreiben. Das Trinken war nur ein Symptom, die Ursachen ganz andere. Und denen hab ich mich gewidmet, so dass es für mich keinen Grund mehr gibt, vor irgendwas fliehen zu müssen. Klingt gut? Ist es auch!