Genug gebüßt? Schuldgefühle ablegen

Teil 3 der “Schuldgefühle”-Reihe von Helga Kernstock-Redl.

Sie wollen sich nicht länger schuldig fühlen? Oder Sie wollen einem Kind helfen, damit es dadurch nicht mehr so belastet ist? Seit vielen Jahren erfrage ich als Psychologin und Coach Wege, die Menschen in unterschiedlichsten Situationen gefunden haben, um ein Schuldgefühl guten Gewissens abzulegen. Manchmal stand eine reale, sogar schwere Schuld dahinter. In anderen Fällen war das Gefühl, logisch betrachtet, ganz klar unbegründet und trotzdem hartnäckig präsent. In beiden Fällen kann der Ausstieg gelingen.

Raus aus den Schuldgefühlen

Die Entscheidung „Ich will dieses Schuldgefühl jetzt nicht mehr haben“ ist bereits ein erster, wichtiger Schritt in die gewünschte Richtung. Sicher haben Sie schon erlebt, dass es kaum möglich ist, einem anderen Menschen ein Schuldgefühl auszureden, etwa mit den Worten: „Du brauchst dich doch nicht schuldig fühlen.“ Meistens muss der oder die Schuldgefühlsgeplagte selbst beschließen: „Ich will nicht mehr leiden.“ Denn sogar bei ganz realer Schuld gilt (mit wenigen Ausnahmen bei schwersten Straftaten): Irgendwann hat wohl jeder und jede genug gebüßt.

Am Anfang steht in jedem Fall die kritische, objektive Prüfung der Schuld nach 7 Kriterien (siehe Teil 1): Hat man zurechnungsfähig und mit echter Wahlmöglichkeit eine anerkannte Regelung missachtet — zum Beispiel ein Kind oder eine Firma geschädigt? Ist man verpflichtet, etwas zurück zu geben oder zu zahlen oder hat die Verantwortung für eine andere Person und deren Verhalten übernommen? Fehlen anerkannte Rechte oder andere Umstände, wie zum Beispiel ein Alter unter 14 Jahren, die eine Schuld mildern oder zum Verschwinden bringen können?

Wenn ja, dann haben wir vermutlich tatsächlich Schuld oder Teilschuld. Sobald wir dabei auch eine persönliche, verinnerlichte Regel missachteten haben — „Ich muss das Beste für die Firma tun.“ „Ich muss mein Kind beschützen“ — dann fühlen wir meistens (zusätzlich) mehr oder weniger starke Schuldgefühle.

Einige davon sind jedoch unbegründet, weigern sich jedoch zu verschwinden: „Es hätte so viel passieren können“, denken sich manche nach einem Fehler. Doch es ist alles gut gegangen. Trotzdem kann sich auf Basis einer bloßen Katastrophenphantasie ein extrem hartnäckiges Schuldgefühl entwickeln. Oder man merkt: Die innere Regel war gar nie rechtmäßig oder ist inzwischen veraltet: „Du muss die Erwartungen anderer erfüllen“, droht das Schuldgefühl, doch der Verstand weiß: „Heute nicht mehr! Ich bin erwachsen.“ Doch das verinnerlichte Gesetz wirkt seit Kindertagen unerbittlich fort und schickt Schuldgefühle, sobald man es übertritt. Höchste Zeit, das Gesetz zu ändern.

Schuldgefühle sind von Natur aus nicht für die Ewigkeit gedacht

Glücklicherweise gibt es viele Wege aus diesem Gefühl. Insgesamt mehr als ein Dutzend verschiedene konnte ich inzwischen kennenlernen.

Am Anfang steht die kritische Prüfung der Sachlage selbst und des missachteten Gesetzes. Manchmal löst sich das Schuldgefühl in Luft auf, weil ganz klar wird: „Ich habe alles richtig gemacht.“ oder „Diese alte Regel gilt heute oder hier gar nicht mehr.“ Von Zeit zu Zeit ist es grundsätzlich ungemein nützlich, den eigenen Moralkodex kritisch zu überarbeiten, überholte Gesetze zu streichen und neue auszuhandeln. Auch in Familien, bei Paaren und auch in Teams gehört das zur normalen Entwicklung.

Herr Müller (siehe Teil 1) bemerkt, er folgt dem inneren Gesetz: „Ich muss immer für Mutter und Vater da sein.“ Das möchte er nun verändern, denn die ständigen Schuldgefühle belasten ihn enorm. Also beschließt er für sich einen neuen Grundsatz: „Meine Eltern sind erwachsen. Es ist ihre Pflicht, für sich selbst zu sorgen. Das gilt für mich auch. Ich helfe, wenn ich will, aber ich muss nicht.“ Herr Müller kann nun darüber mit den Eltern sprechen, was sie darüber denken. Vielleicht ist ihnen dieses Gesetz des Sohnes gar nicht bewusst. Falls das nicht den gewünschten Erfolg bringt oder die Eltern ihre alten Gewohnheiten nicht ablegen können oder wollen, stehen Herrn Müller andere Möglichkeiten zur Verfügung, sich vor Schuldzuweisungen zu schützen.

Begründete und unbegründete Schuldgefühle

Bei „echter“ Schuld und somit gerechtfertigten Schuldgefühlen ist es wichtig, diese auch anzuerkennen. Danach kann man sich ernsthaft entschuldigen, man kann Strafe oder Buße auf sich nehmen. Es entlastet, den Fehler oder Regelbruch zutiefst zu betrauern oder daraus für die Zukunft lernen und ihn nie wieder begehen. Vielleicht gelingt es, den Schaden wieder gut zu machen oder um Verzeihung zu bitten?

Spannend wird’s, wenn sich ein Schuldgefühl als völlig unbegründet und trotzdem dauerhaft quälend erweist. Eine intensive Beschäftigung damit kann zum Beispiel zeigen, dass es vor einem anderen, derzeit noch unerträglichen Gefühl schützt: vielleicht vor der Trauer nach einem Verlust? Oder es will verhindern, die totale Ohnmacht angesichts einer aussichtslosen, katastrophalen Situation spüren zu müssen? Es ist dann für die eigene Psyche leichter erträglich, wenn sie sich eine Schuld und somit Hoffnung einredet: Solange man glaubt, etwas falsch gemacht zu haben, kann man schließlich versuchen, es richtig zu machen, Lösungen zu finden und sich in Zukunft zu schützen. Nach traumatischen Situationen sind Schuldgefühle der absolut Unschuldigen deshalb durchaus keine Seltenheit. Doch falsche Schuldgefühle bringen uns nicht weiter. Das wahre Gefühl dahinter zu erkennen und sich dem zu stellen, bewahrt davor, sich weiterhin erfolglos mit dem „Ablenkungsmanöver Schuldgefühl“ herumquälen zu müssen.

Der Weg heraus kann zum Beispiel über psychologische Traumabehandlung führen. Manchmal ist es möglich, allein oder in fachkundiger Begleitung Erinnerungen zu verändern und Gefühle oder Gesetze dort verändern, wo sie entstanden sind: in der Vergangenheit. Die Beschreibung einer solchen „psychologischen Zeitreise-Technik“ finden Sie auf www.schuldgefühle.at.

Sie merken: Niemand muss Angst vor Schuldgefühlen haben. Sie wollen der Gemeinschaft Gutes und sollen damit letztendlich auch jedem und jeder einzelnen von uns dienen. Doch es ist für die seelische und körperliche Gesundheit wichtig, keine unnötigen, nicht zu viele und sie nicht zu lange mit zu schleppen. Glücklicherweise gibt es vielerlei Wege, um sie letztendlich guten Gewissens ablegen zu können.

Familientherapeutin Helga Kernstock-Redl

Mehr dazu in Teil 1 und Teil 2 dieser Reihe und im Buch: „Schuldgefühle – Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können“ und auf www.schuldgefühle.at